Lebe Deinen Traum!

Bielefeld(WB). Auch die dritte große Eigenproduktion der Musik- und Kunstschule (Muku) zündet ein Feuerwerk der musiktheatralen Kunst. Kein Wunder also, dass die Uraufführung der Pop-Oper »Tilda« vom Publikum mit Stürmen der Begeisterung aufgenommen wurde.

Mehr als 200 Musiker, Schauspieler, Sänger und Tänzer ließen sich am Ende auf der großen Bühne der Oetkerhalle mit Standing Ovations feiern. Zu Recht, schnurrt das Werk doch nicht nur wie ein Uhrwerk ab (Regie: Gunter Möllmann, Annelena Balke, Janine Sonst), sondern bietet alles, was die Sinne anregt: Mitreißende Musik mit markanter Rhythmik und ohrwurmverdächtiger Melodik (Johannes Strzyzweski), ein Libretto, das die Kinder- und Jugendlichen in ihrem Alltag abholt und gefangen nimmt (Hellmuth Opitz), große Tanztableaus, die das Geschehen eindrucksvoll illustrieren (Isabel Rolfs, Christine Grunert), fantasievolle Kostüme (Sabrina Strunk) und Masken (Sabine Töpler) sowie ein mit markanten Elementen ausgestattetes Bühnenbild (Rainer Krause), welches durch filmische Sequenzen (Dennis Böddicker) geschickt erweitert wird. Bis hin zur Gestaltung der Werbeplakate und des Programmhefts (Dietrich Schulze) sowie der Pausenunterhaltung durch das Blockflötenensemble Stimmwerck (Alexander Altenhein) ist diese neuerliche Produktion ein Eigengewächs der Muku und ihrer Bielefelder Partner. das Land der Traumstehler

Das Werk ermutigt dazu, die eigenen Träume zu leben, auch wenn dies weder in einer konformistisch-materialistisch orientierten Gesellschaft noch im Schulalltag einfach ist. Sieben Schülerinnen und Schüler, die am Samstagvormittag von Lehrer Steinbeiß zum Nachsitzen beordert wurden, können ein Lied davon singen. Steinbeiß will ihnen ihre Flausen mit einem Besinnungsaufsatz austreiben. Thema: Der Ernst des Lebens. Doch der fußballbegeisterte Robin, die von einer Schauspielkarriere träumende Annabel, der Poetry-Slammer Ugur, die Sprayerin Malina, das Liebespaar Elena und Eric sowie die »Traumtänzerin« Tilda denken nicht daran, einen Aufsatz zu schreiben. Da gehen sie schon lieber mit Said auf eine Abenteuerreise.

Der syrische Flüchtling gewinnt schnell das Vertrauen und den Respekt der Jugendlichen. Aktuell putzt er ihre Schulräume. In seiner Heimat hat er als Ingenieur gearbeitet und den Euphrat gestaut. Doch in Deutschland wird sein Diplom nicht anerkannt. Er weiß, was es heißt, sich von Träumen verabschieden zu müssen und geleitet die Schüler ins Land der Traumstehler – andere nennen es das Land der Wirklichkeit.

Stachelbehelmte Grenzer wachen rigide darüber, dass keine »Phantasten« den Schlagbaum passieren. Jenseits der Grenze schuftet eine Armee aus Arbeitern an Tagen und in Nächten. Hier heißt es, Zeit ist Geld. Träume sind über eine Traumdealerin käuflich zu erwerben und ein herrlich überdrehter Moderator im Glitzeranzug – Benjamin Bloch läuft in der Rolle zur Höchstform auf – weiß, wie die Werbung die Wünsche anheizt. Traumpartner gefällig? Gibt’s im Internet auf entsprechender Partnervermittlungsplattform. Traum­­gesicht? Eine Youtube-Werbe-Ikone à la Bibi empfiehlt »Face-Club« – und das junge Publikum biegt sich vor Lachen. Witz und Fantasie

Schon erliegt die Gruppe den Verführungen der Konsumgesellschaft. Varieté-Tänzerinnen suggerieren ein Leben in Spiel und Leichtigkeit. Nur Tilda, die unbedingt Tänzerin werden möchte, bleibt standhaft. Dass sie einen starken Charakter hat, wird unter anderem durch die Doppelung ihrer Rolle verdeutlicht.

Ein Kampf zwischen der bösen Traumdealerin und der guten Fee (Jeder Traum hat das Recht, geträumt zu werden) entführt kurz in die Welt der Märchen, in der am Ende das Gute den Sieg davon trägt und ein Läuterungsprozess stattgefunden hat. Auch die Mitschüler von Tilda erkennen am Ende, dass allein die Verwirklichung ihrer Leidenschaften zu einem erfüllten Leben führt.

Und so ist »Tilda« ein komplexes Werk mit einer Botschaft, die indes niemals moralinsauer daher kommt, sondern sich mit Witz und Fantasie eng an der Lebenswirklichkeit eines jugendlichen Publikums abarbeitet, ohne dabei ältere Semester zu verprellen. Zugute kommt dem Stück desweiteren, dass gesellschaftspolitische Themen wie Krieg, Flucht und Migration sensibel in die Story integriert werden und so der Blick über das eigene Leben hinaus geweitet wird.

Auch musikalisch wird diese essentiell-existenzielle Kraft immer wieder spürbar: Sei es in den Solo-Songs, sei es in der Wucht des Chores, der hinter einer Gaze-Leinwand steht, sei es im Orchester, das erweitert um eine Band eine enorme stilistische Bandbreite erkennen lässt – vom druckvoll-rhythmischen Sound bis hin zu betörendem Klangzauber. Tobias Richter ist der Mann am Pult, der sämtliche Fäden souverän zusammenhält.

Uta Jostwerner für das Westfalen-Blatt am 3.2.2017